Die schrecklichen Ereignisse, die zum Tod von Anneliese Michel führten, sind zu einer modernen Legende geworden. Die meisten kennen sie als Inspiration für den Film „Der Exorzismus von Emily Rose“ . Für manche ist sie eine inoffizielle katholische Heilige, eine Frau von heiliger Güte, die für unsere Sünden litt und starb. Andere wiederum würden behaupten, Anneliese sei der Archetyp dessen, was passiert, wenn religiöser Eifer zu weit geht. Überwältigend ist sie jedoch als die tragische Figur hinter einem der bekanntesten und erschreckendsten Fälle dämonischer Besessenheit in Erinnerung geblieben.
Für alle, die nach Anneliese forschen oder von ihr hören, ist es unbestreitbar, dass ihre Geschichte unser grundlegendes Verständnis der Welt um uns herum in Frage stellt.
Anneliese Michels Kindheit und soziales Umfeld
Anneliese wurde 1952 in der bayerischen Kleinstadt Klingenberg im Herzen des katholischen Deutschlands geboren. Sie wuchs religiös auf. Ihre Familie war streng katholisch geprägt. So traditionell, dass es als Familientradition galt, mindestens ein Kind einer kirchlichen Laufbahn zu widmen.2Anneliese selbst äußerte den Wunsch, eines Tages Lehrerin für die Grundsätze der katholischen Religion zu werden.
Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass die Familie Michel, wie viele andere in Bayern, die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils in den 1960er Jahren ablehnte.3Das Zweite Vatikanische Konzil, umgangssprachlich Vatikanum II genannt, galt als Instrument der spirituellen Erneuerung. Es zielte darauf ab, den katholischen Glauben zu modernisieren und ihn besser an die veränderte Kulturlandschaft der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg anzupassen. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Konzils war die Ablehnung der globalen Vorherrschaft des Katholizismus über andere Religionen. Im Rahmen seiner Bemühungen um den Dialog mit anderen Religionen lud Papst Johannes XXIII. Christen außerhalb der katholischen Kirche ein, Beobachter zum Konzil zu entsenden.
Eine solch streng religiöse Erziehung könnte ein Beleg dafür sein, dass ihre spätere Besessenheit das Ergebnis religiösen Fanatismus war. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, was Katholizismus in Deutschland bedeutete. Eine 1974 vom Freiburger Institut für Borderline-Psychologie durchgeführte psychologische Studie ergab, dass nur 63 Prozent der katholischen Theologen in Deutschland an den Teufel glaubten. Als die Wickery Organization zwei Jahre später eine ähnliche Frage stellte, leugneten überwältigende 89 Prozent die Existenz des Teufels in Gestalt eines Wesens.4Deutsche, sowohl Katholiken als auch Nichtkatholiken, waren äußerst skeptisch gegenüber der Existenz Satans. Zudem schätzt man in jüngerer Zeit, dass es in Deutschland nur drei katholische Exorzisten gibt, die im Geheimen tätig sind. Im Vergleich dazu gibt es im benachbarten Frankreich 70 Exorzisten, die ihren Beruf offen ausüben. Eine ähnliche Zahl ist in Italien im Einsatz. Im Juli 2005 nahmen Berichten zufolge rund 350 praktizierende Exorzisten an einem Kongress in Polen teil.5Die deutsche Gesellschaft war und ist auf strenge Rationalität ausgerichtet, auch in religiösen Fragen. Das bedeutet, dass das soziale Umfeld, in dem Anneliese aufwuchs, den Teufel und dämonische Besessenheit nicht als reale Dinge anerkannte. Daher ist es problematisch, den Fall sofort als Beispiel für religiösen Eifer abzutun.
Abgesehen von den religiösen Überzeugungen ihrer Familie deutet vieles darauf hin, dass Anneliese eine normale Kindheit hatte. Annelieses Eltern, Anna und Josef, wurden als streng, aber auch beschützend beschrieben.6Ihre Mutter erinnerte sich, wie Anneliese „… das Leben mochte. Sie sang eigenwillig. Sie war ein intelligentes Mädchen. Lehrer und Professoren machten ihr immer Komplimente.“7 Diese Meinung teilten viele ihrer Mitschüler. Für alle, die ihr begegneten, war Anneliese ein ruhiges und fröhliches Mädchen.
Krankengeschichte: Eine junge Frau im Niedergang
Ungefähr zu Annelieses sechzehntem Geburtstag begann sich ihr Leben zu ändern. Im September 1968 verlor sie in der Schule das Bewusstsein. Später am Abend, kurz nach Mitternacht, wachte Anneliese gelähmt auf. Sie hatte keine Kontrolle mehr über ihre Blase, atmete schwer und ihre Zunge schmerzte. Der Moment verging schnell, doch Anneliese war zu Tode erschrocken.8
Dieser Vorfall war zwar erschreckend, geriet aber bald in Vergessenheit. Erst fast ein Jahr später, am Nachmittag des 24. August 1969, erinnerte sich Anneliese wieder. Sie erlitt einen weiteren kurzen Blackout, dem noch am selben Tag eine Lähmung folgte. Am nächsten Morgen ging Anna mit ihrer Tochter zum Hausarzt. Auf seine Überweisung hin wurde ein Termin beim Neurologen Dr. Siegfried Lüthy vereinbart. Am 27. August wurde bei Anneliese ein Elektroenzephalogramm (EEG) durchgeführt, das eine normale Gehirnaktivität ergab. Der Arzt kam zu dem Schluss, dass Anneliese wahrscheinlich zerebrale Anfälle mit Symptomen einer Grand-Mal-Epilepsie erlitt. Zu diesem Zeitpunkt wurden ihr noch keine krampflösenden Medikamente verschrieben.9
Zuvor war Annelieses Krankengeschichte von zahlreichen Krankheiten geprägt. Noch vor ihrem fünften Lebensjahr erkrankte sie an Mumps, Masern und Scharlach. Ihre Kindergärtnerin hielt sie für ein so empfindliches Kind, dass ihre Eltern dazu rieten, sie ein Jahr länger zu Hause zu behalten als die anderen Kinder.10
Kurz nach ihrem Besuch bei Dr. Luthy litt Anneliese unter starken Halsschmerzen, die zur Entfernung ihrer Mandeln führten. Anschließend erkrankte sie an einer Rippenfellentzündung und einer Lungenentzündung. Eine Tuberkuloseinfektion verschlimmerte die Situation zusätzlich. Ihre Symptome waren so stark, dass sie die Schule abbrach und bettlägerig wurde.11Am 28. Februar 1970 wurde Anneliese, da sich ihr Zustand nicht besserte, in eine Lungenklinik für Jugendliche in Mittelberg eingeliefert. Bald darauf erfuhren ihre Eltern, dass sie an Herz-Kreislauf-Problemen litt.12
Im Juni 1970 erlebte Anneliese einen dritten, schrecklichen Anfall. Sie suchte einen anderen Neurologen, Dr. von Haller, auf und unterzog sich einem weiteren EEG. Dieses Mal jedoch offenbarten die Untersuchungen eine Reihe von Unregelmäßigkeiten. Der Arzt beobachtete unregelmäßige Alphawellenmuster sowie verstreute Delta- und Thetawellen in Annelieses Gehirn. Daraufhin wurden ihr krampflösende Medikamente verschrieben. Dies markierte den Beginn ihrer Epilepsiebehandlung.13
Am 29. August durfte Anneliese endlich nach Hause zurückkehren.
Mittlerweile dürfte jedem klar sein, dass Anneliese Michel alles andere als eine gesunde junge Frau war.
Anneliese Michels geistiger Verfall
Im Hinblick auf ihre psychische Gesundheit lohnt es sich, das emotionale Trauma zu besprechen, das Anneliese durch die erfolglosen Arztbesuche erlitt. Um mit dem ständigen Stress und der Verärgerung bei Arztbesuchen umzugehen, vertiefte sich Anneliese nachweislich in christliche Literatur und Praktiken.14Darüber hinaus bedeutete Annelieses Aufenthalt in der Klinik Mittelberg eine weitere Zeit emotionalen Stresses. Hier wurde sie in eine kalte, sterile Umgebung gebracht, fernab von der vertrauten Umgebung ihres Zuhauses. Es gibt Berichte, dass andere Kinder in der Klinik Anneliese mieden und verspotteten. Die leichte „Rotznase“ wurde häufig eingesetzt, um das inzwischen offensichtlich isolierte Mädchen zu demütigen.15Dass Anneliese diese Veränderung nicht verarbeiten konnte, zeigte sich unter anderem in ihrem sich verschlechternden psychischen Zustand: Sie wurde depressiv und zog sich zurück. Nur selten sprach sie danach über ihre Zeit in der Klinik. Ihre lebenslange Freundin Maria Burdich bezeugte später: „Nach ihrer Krankheit veränderte sich Anneliese. Sie war still und zog sich von ihren Freunden zurück.“16
Es gibt auch Hinweise darauf, dass Annelieses Beziehung zu ihrer Mutter aufgrund von Anna Michels überheblichem Wesen und ihrem Beschützerinstinkt für ihre zerbrechliche Tochter zeitweise angespannt war. Dies äußerte sich oft darin, dass Anneliese an Aktivitäten gehindert wurde, die für Mädchen ihres Alters normal waren. So wurde Anneliese beispielsweise im Alter von vierzehn Jahren aus Angst um ihren schlechten Gesundheitszustand der Besuch von Gesellschaftstanzkursen untersagt.17Ein Psychiater, Dr. Lenner, der Anneliese später traf, hob hervor, dass die zerrüttete Familie des tragischen Mädchens die Ursache ihrer Neurose war. Er bemerkte insbesondere Annelieses Hass auf ihre Mutter und ihren Gebrauch von heiligen Gegenständen und Gebeten als Mittel zur Kontrolle und Disziplinierung ihrer Töchter. Dies könnte Annelieses spätere Abneigung gegen solche religiösen Elemente erklären: Sie waren ein Symbol der Kontrolle ihrer Mutter.18Allerdings sind Ängste und der Wunsch, gegen scheinbar unwissende Eltern zu rebellieren, bei Jugendlichen nichts Ungewöhnliches.
Anneliese begegnet „Fratzen“
Irgendwann während ihres Aufenthaltes in der Klinik Mittelberg berichtete Anneliese erstmals von Fratzen. Später, im September 1973, beschrieb sie Dr. Lüthy, was sie sah: Es waren grausige, dämonische Gesichter. Immer wenn sie sie sah, fühlte sie sich leer, als wäre der Teufel in ihr. Neben Fratzen beschrieb Anneliese auch übelriechende Gerüche, die sie mit brennenden Fäkalien verglich.19
Als ihre Anfälle stärker wurden, behauptete Anneliese, die dämonischen Gesichter würden häufiger und die Stimmen, die sie begleiteten, sagten ihr, sie sei zur Hölle verdammt. Trotz dieser Episoden war sie im Alltag relativ normal zurechtgekommen und konnte sogar eine liebevolle Beziehung zu ihrem Freund Peter aufrechterhalten. In den folgenden zwei Jahren suchte Anneliese verschiedene Ärzte auf und erhielt Medikamente sowohl gegen die Anfälle als auch gegen die darauffolgende Psychose. Am 20. November verschrieb ihr der Neurologe Dr. Lüthy Dilantin, ein Antikonvulsivum, das hauptsächlich zur Behandlung von Grand-Mal-Epilepsie eingesetzt wird. 20 Obwohl Anneliese eine schreckliche, langwierige Krankheit durchlebte, ist es wichtig klarzustellen, dass zunächst niemand glaubte, Anneliese sei besessen. Man betrachtete dies als eine Krankheit, die mit Medikamenten behandelbar war.21
Zwischen März und April 1973 hörte Anneliese Geräusche in ihrem Schlafzimmer. Mitten in der Nacht wurde sie durch Klopfen geweckt. Kein anderes Familienmitglied konnte diese Geräusche hören. Anneliese wurde erneut zum Arzt gebracht, der feststellte, dass ihr Gehör völlig normal war.22
Während ihrer akademischen Prüfungen verschlimmerten sich Annelieses Symptome. Die Stimmen und Halluzinationen dämonischer Gesichter wurden immer schlimmer. Neben ihren psychischen Beschwerden hatte sie zunehmend Schwierigkeiten beim Sprechen und Gehen. Sie litt auch unter schweren Depressionen. Später, 1976, beschrieb Anneliese diese schwierige Zeit in einem aufgezeichneten Gespräch mit einem Priester:
Es ist ein Schrecken, der durch alle Glieder fährt und sich dort festsetzt. Es ist eine Furcht, die einem das Gefühl gibt, man sei mitten in der Hölle. Man ist völlig verlassen.“23
Möglichkeit dämonischer Besessenheit
Eines Abends beim Essen sollen Annelieses Hände enorm angeschwollen sein. Nach Aussage ihrer Mutter rief Anneliese: „Ich habe schwarze Hände. Mein Heiland, vergib mir!“ Dabei behauptete sie, teuflische Gesichter an der Wand sehen zu können. Sie beschrieb sie als „sieben Kronen und sieben Hörner“.24
Inzwischen wurde die Möglichkeit einer dämonischen Besessenheit bei Anneliese in Betracht gezogen. Ein Mitglied der Ortskirche, Thea Heinz, soll dies Annelieses Mutter erstmals vorgeschlagen haben. Die Wirkungslosigkeit der Medikamente, die Anneliese einnahm, schien dies zu bestätigen. Irgendwann in der zweiten Hälfte des Jahres 1973 fand Anneliese Trost im Gespräch mit Pater Ernst Alt, einem Priester, der ihre Überzeugung teilte, unter dem Einfluss Satans zu stehen.25Als Alt in einem späteren Interview über den Fall sprach, erklärte er, er sei dem Fall zunächst skeptisch gegenübergestanden. Er habe nicht geglaubt, dass eine getaufte Person von Dämonen besessen sein könne.26
In einer späteren Aussage behauptete Dr. Lüthy, dass Anneliese etwa zu dieser Zeit nicht mehr in der Lage war, selbst Entscheidungen zu treffen.27Könnte es sein, dass eine verletzliche junge Frau dem Einfluss von Pater Alt, ihrer Mutter und anderen Mitgliedern ihrer religiös geprägten Gemeinde geriet und deshalb glaubte, von Dämonen besessen zu sein?
Die Möglichkeit dämonischer Besessenheit wurde offenbar auch durch Annelieses zunehmende Intoleranz gegenüber heiligen Gegenständen wie Weihwasser und Kruzifixen bewiesen. Eine bestimmte Episode wird oft zitiert. 1973 pilgerte Anneliese mit ihrem Vater nach San Damiano, einem Kloster in Norditalien, das mit der Begegnung des Heiligen Franziskus mit Christus in Verbindung gebracht wird. Während des Besuchs konnte Anneliese das Heiligtum nicht betreten. Sie behauptete, die Erde unter ihren Füßen brannte. Sogar der Anblick von Heiligenbildern und Sakramentalien schmerzte sie. Auf dem Heimweg war Anneliese immer noch nicht sie selbst. Ihre Stimme hatte sich verändert: Sie war tiefer und männlicher. Außerdem verströmte sie einen üblen Geruch, der so stark war, dass andere Pilger im Bus von dem Gestank berichteten.
Darüber hinaus erinnerte sich ihre Mutter Anna an eine Episode, in der Anneliese mit völlig schwarzen Augen vor einer Marienstatue stand.28
1975: Das Jahr, in dem die Exorzismen begannen
Im Mai 1975 erlitt Anneliese ein schweres emotionales Trauma. Ihre Großmutter, zu der sie eine tiefe Bindung hatte, starb; und ihre Schwester Barbara zog weg, um Karriere zu machen. Autoren, die über Annelieses angebliche Besessenheit schreiben, betonen immer wieder, dass diese junge Frau außergewöhnlich sensibel war und zunehmend nicht mehr mit der Welt um sie herum zurechtkam.29Tatsächlich hatte Anneliese einige Monate zuvor, am 9. September 1974, in einem Gespräch mit Pater Alt die Aussage gemacht: „Ich komme mit der Realität nicht zurecht.“30Einige Autoren bezeichnen dies als den Moment, in dem Anneliese einen Nervenzusammenbruch erlitt, der durch die Entwicklung multipler Persönlichkeiten gekennzeichnet war, die heute als dissoziative Störung bekannt sind.31Damals galt jedoch dämonische Besessenheit als immer wahrscheinlichere Erklärung für Annelieses Zustand.
1975 wurde Pater Arnold Renz, ein hochrangiger Priester und Exorzist, mit Annelieses Fall befasst. Bei seinem ersten Besuch war er von dem Mädchen völlig verblüfft. Er behauptet, sie sei im Stehen wiederholt von einer starken Kraft zu Boden geworfen worden. Jedes Mal habe sie auf die gleiche Weise reagiert: Sie sei auf die Knie gegangen und habe das Ave Maria gebetet. Annelieses Mutter berichtete, der Teufel habe ihre Tochter ständig zu Boden geworfen, so sehr, dass Anneliese schließlich auf dem Boden schlief. Drei Jahre lang schlief sie so.32
Die Einbindung medizinischer Fachkräfte
In der Gerichtsverhandlung, die diese Ereignisse nach Annelieses Tod behandelte, erklärten die Priester, sie hätten Anneliese zu so vielen Ärzten und Psychiatern wie möglich geschickt. Annelieses Mutter behauptete sogar, es sei Dr. Lüthy gewesen, der der Familie empfohlen habe, einen Jesuiten um Hilfe zu bitten. Für viele Beteiligte deutete die Wirkungslosigkeit der Medikamente auf dämonische Besessenheit hin.
Laut Pater Gabriele Amorth, dem ehemaligen Chefexorzisten des Vatikans (der behauptet, im Laufe seiner Karriere über 30.000 Exorzismen durchgeführt zu haben) , ist Widerstand gegen Medikamente eines der typischen Symptome dämonischer Einmischung.
Wir können feststellen, dass „einer der entscheidenden Faktoren für das Erkennen einer teuflischen Besessenheit die Wirkungslosigkeit von Medikamenten ist“, während sich Segnungen als sehr wirksam erweisen. Ich exorzierte Mark, einen jungen Mann, der Opfer einer schweren Besessenheit war. Er war lange Zeit eingesperrt und wurde mit psychiatrischen Mitteln, insbesondere Elektroschocks, gequält, ohne dass die geringste Reaktion erfolgte. Als der Arzt eine Schlaftherapie verschrieb, bekam er eine ganze Woche lang so viele Schlaftabletten, dass man damit einen Elefanten hätte betäuben können; er schlief weder tagsüber noch nachts ein. Er irrte benommen und mit weit aufgerissenen Augen im Krankenhaus umher. Schließlich landete er vor meiner Tür, mit sofortiger positiver Wirkung.33
Im Fall von Anneliese Michel muss jedoch erwähnt werden, dass Epilepsie in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren noch nicht so gut erforscht war wie heute. Das MRT-Gerät beispielsweise wurde erst 1977 erfunden, sodass zum Zeitpunkt der Epilepsiediagnose bei Anneliese noch kein vollständiges Bild des Gehirns erstellt werden konnte. Darüber hinaus gibt es eine medikamentenresistente Form der Epilepsie, die etwa 20 bis 40 Prozent aller Epileptiker ausmacht, was allein in den USA rund 400.000 Menschen entspricht.34Es ist daher nicht unmöglich, dass Annelieses Epilepsie nicht auf Medikamente ansprach.
Nachdem alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, leiteten die Priester Renz und Alt die vorbereitenden Schritte zum Exorzismus ein. Sie führten einen Probeexorzismus durch, um festzustellen, ob Anneliese wirklich besessen war. Ein großer Teil des Exorzismus besteht aus einem Verhör: Es geht darum, herauszufinden, warum das dämonische Wesen von einer Person Besitz ergriffen hat. Deshalb setzten sich die Priester irgendwann neben sie und befahlen ihr im Geiste: „Geh weg von ihr! Sag, wer du bist!“ Sofort geriet Anneliese in Raserei. Sie packte sich am Hals und zerstörte den Rosenkranz, den sie trug.35
Wie bei den meisten Fällen mutmaßlicher dämonischer Besessenheit erreichen uns die Beweise durch persönliche Augenzeugenberichte. Im Fall von Anneliese Michel bedeutet die Beteiligung der Kirche, dass die am Exorzismus beteiligten Priester detaillierte Notizen und Akten führten. Daher wissen wir, dass Annelieses Zerstörung des Rosenkranzes große Besorgnis auslöste. Für religiös Gesinnte können nur die mächtigsten Dämonen heilige Gegenstände zerstören.
Nach diesem Vorfall wandten sich die Priester an den Bischof von Würzburg und baten ihn, einen Exorzismus zu genehmigen.
Während der Bischof die Einzelheiten des Falles beriet, führten die Priester ein Befreiungsritual durch. Solche Rituale konzentrieren sich auf die Austreibung des oder der Geister, von denen man glaubt, dass sie ein Leiden verursachen. Das Gebet spielt dabei eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zum formelleren Exorzismus befasst sich ein Befreiungsritual mit kleineren und allgemeineren Einflüssen wie Besessenheit, Unterdrückung oder Qualen am Arbeitsplatz sowie spirituellen Traumata.36
Nachdem die Genehmigung erteilt worden war, leiteten die Priester das jahrhundertealte Ritual des katholischen Exorzismus ein, das auch als „Römisches Ritual“ von 1614 bekannt ist. Am Sonntag, dem 3. August 1975, unterzog sich Anneliese ihrem ersten Exorzismus. 37 Der ältere der beiden, Pater Renz, übernahm die geistliche Leitung.
Nachfolgend der Brief des Bischofs an Pater Renz:
Nach sorgfältiger Prüfung und sorgfältiger Information beauftrage ich nun den Salvatorianerpater Renz, Superior in Rück-Schippach, Frau Anna Lieser (Annelieses Pseudonym) gemäß Can. 1151 CIC zu betreuen. Mein Gebet gilt diesem Anliegen schon seit längerem. Möge Gott uns helfen. Ich danke allen herzlich für ihre Bemühungen.38
Interessanterweise versuchte man trotz der Suche nach einer religiösen Heilung weiterhin eine medizinische: Anneliese nahm die von ihrem Arzt verschriebenen Medikamente bis kurz vor ihrem Tod weiter ein.
Anneliese Michel und die sechs Dämonen
An diesem Punkt eskalierte Annelieses Fall erneut. Sobald der Exorzismus begann, sprachen die Dämonen – ohne erkennbaren Anlass – mit tiefen, kehligen Stimmen durch Anneliese. Alle Anwesenden waren zutiefst verstört. Eine so plötzliche und starke dämonische Präsenz war für die Exorzisten untypisch. Tatsächlich war es so ungewöhnlich, dass sich Dämonen so früh im Verlauf des Exorzismus zeigten, dass die Priester unvorbereitet waren und die Schnelligkeit, mit der Anneliese sprach, kaum begreifen konnten. Das Tempo der nachfolgenden Ereignisse zwang sie, alles für den Bischof und andere zur Untersuchung aufzuzeichnen. Anneliese selbst verlangte, die Tonbänder weltweit zu veröffentlichen, damit die Menschen an die Existenz des Teufels glauben würden.39Aus diesem Grund haben wir jetzt Zugriff auf Audiobeweise des Exorzismus.
Angeblich offenbarten sich sechs Dämonen: Luzifer, Judas, Nero, Kain, Hitler und Fleischmann, ein in Ungnade gefallener fränkischer Priester aus dem 16. Jahrhundert. Immer wenn Hitler von Anneliese Besitz ergriff, kündigte er sich den Priestern mit einem „Sieg Heil“ an.40Seltsamerweise sprach Hitler mit der korrekten österreichischen Betonung.41
Die Dämonen würden die Kirche kritisieren, Gläubige und Ungläubige gleichermaßen verspotten und ihre eigene Macht preisen.
Luzifer soll gesagt haben: „Ich will die Erde für mich erobern.“
„Die Leute sind dumm wie Schweine“, spuckte Anneliese und behauptete, von Hitler besessen zu sein. „Sie denken, nach dem Tod ist alles vorbei. Es geht weiter.“42
Exorzisten und Experten für paranormale Phänomene zufolge könnten diese Namen von dämonischen Wesenheiten gewählt worden sein, um in Bezug auf Zeit und Ort Angst und Schrecken zu verbreiten (daher Hitler und Fleischmann), und spiegeln möglicherweise nicht die tatsächlichen dämonischen Namen wider.
Was auch immer die Wahrheit hinter diesen Namen ist, die Gräueltaten, die sie Anneliese angeblich zufügten, waren erschreckend. Sie redete in Zungen, griff tagelang mit bestialischer Kraft Familienmitglieder an, bellte wie ein Hund, biss einem toten Vogel den Kopf ab, aß Spinnen und trank ihren eigenen Urin. Anneliese behauptete auch, Dämonen gesehen zu haben, die spöttisch um die Priester tanzten. Unsichtbare Kräfte warfen das tragische Mädchen von Wand zu Wand, sodass sie fast immer von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken übersät war. Sie stopfte sich mit Unmengen an Essen und Trinken voll und sah dabei fast immer abgemagert aus. Außerdem sollen Tische und Stühle von selbst im Haus umhergewandert sein.
Pater Alt beschrieb in seinen eigenen Aufzeichnungen: „Ihr Kopf und Gesicht waren so zerschunden, dass sie fast schwarz aussahen. Ihre Augen waren so geschwollen, dass man sie kaum sehen konnte. Sie war so geschlagen, dass man sie nicht wiedererkennen konnte.“
Wie kann es sein, dass jemand mit einer schweren körperlichen Vorgeschichte, einschließlich Herz- und Kreislaufproblemen, die Kraft hatte, nicht nur Familienmitglieder anzugreifen, sondern sich auch noch ein solches Ausmaß an Selbstverletzung zuzufügen?
Was auch immer die Ursache dieser Schrecken war, sie haben bis heute die Macht, Angst und Schrecken auszulösen. Man muss sich nur die Audioaufnahmen der Priester anhören, um die markerschütternden Schreie zu hören, die Anneliese ausstieß.
Oftmals endeten die Exorzismussitzungen in einer solchen Brutalität, dass Anneliese festgehalten oder an einen Stuhl gekettet werden musste.44
Diese schrecklichen Episoden dauerten viele Monate an. Gelegentlich erlebte Anneliese Phasen der Klarheit. In diesen Augenblicken verbrachte sie Zeit mit ihrem ständigen Begleiter Peter und plante ihre gemeinsame Zukunft. Sie hofften, eines Tages zu heiraten, wenn all dies vorbei wäre. Unter all dem Schrecken schien es eine echte Hoffnung gegeben zu haben, dass entweder die Medizin oder die Exorzismen oder beides Anneliese von dem heilen würden, was auch immer sie verfolgte. Einmal machten Anneliese und Peter einen Spaziergang im nahegelegenen Wald. Dort angekommen, ging Anneliese jedoch allein weiter. Peter zufolge befand sie sich in einem tranceähnlichen Zustand. Später behauptete sie, an diesem Tag neben der Jungfrau Maria gegangen zu sein. Anneliese berichtete, dass diese ihr gesagt habe: „Es schmerzt mein Herz, dass so viele Seelen in die Hölle kommen … Jemand muss Buße tun … Möchtest du für die Seelen Buße tun, damit sie nicht in die Hölle kommen?“
Anneliese sagte, ihr seien drei Tage Zeit gegeben worden, um über das Angebot der Jungfrau Maria nachzudenken.
Als sie nach Hause kamen, erzählte sie allen von ihrer wundersamen Vision. Sie sagte, sie fühle sich so viel besser als seit langem. Fast so, als hätte die Jungfrau Maria Anneliese von ihrer Besessenheit befreit, während sie über das Angebot nachdachte.
Die Familie Michel war ihrer Vision zunächst skeptisch gegenüber, konnte aber die Freude darüber, dass es Anneliese besser ging, nicht leugnen. Als Anneliese jedoch ihren Wunsch äußerte, den Antrag der Jungfrau Maria anzunehmen, kehrte die Angst ihrer Eltern zurück. Ihre Mutter versuchte, sie davon abzubringen, doch ohne Erfolg.
Märtyrersyndrom
Eine weitere Theorie, die als Erklärung für Annelieses Fall in Betracht gezogen werden kann, ist das Märtyrersyndrom. Dieses ist durch das Bedürfnis definiert, aufgrund eines psychologischen Bedürfnisses Leiden zu suchen. In Bezug auf die Religion kann sich dies als eine extreme Form der Buße aus Liebe und Pflicht gegenüber anderen manifestieren.
Schon in jungen Jahren zeigte Anneliese ein tiefes Interesse an religiösen Themen. Sie wollte später Katechetin werden und die Grundlagen des katholischen Glaubens lehren. In der Schule interessierte sie sich besonders für Theologie und bestand ihre Prüfungen in diesem Fach mit Leichtigkeit.45 Während ihrer Krankheit verstärkte sich ihr religiöser Eifer. In der Mittelberg-Klinik berichtete Anneliese von einem wundersamen Erlebnis. Beim Rosenkranzgebet behauptete sie, einen süßen Duft wahrnehmen zu können, der dem von Veilchen ähnelte. Sie verspürte sofort eine Euphorie, die bis zum nächsten Tag anhielt, und war überzeugt, dass dies das Werk der Jungfrau Maria war.46
Darüber hinaus ist Anneliese dafür bekannt, sich intensiv mit christlicher Literatur zu beschäftigen. Trost fand sie insbesondere bei der Heiligen Barbara Weigand. Die am 10. Dezember 1845 in Schippach bei Elsenfeld geborene Weigand behauptete, Zeugin von Erscheinungen der Jungfrau Maria und des Erzengels Michael gewesen zu sein. Sie gründete den franziskanischen Eucharistischen Liebesbund.
Vieles deutet darauf hin, dass Anneliese eine Affinität zu Weigand empfand: Beide waren weiblich, deutsch, stammten aus sehr religiösen Familien und berichteten von Erfahrungen mit der Jungfrau Maria. Etwa zu dieser Zeit könnte Anneliese die Vorstellung entwickelt haben, ihr Leiden habe einen tieferen spirituellen Grund. Die Ereignisse von 1970 bis 1976 könnten aus dem bewussten oder unbewussten Wunsch entstanden sein, sich selbst zu opfern, um eine wahrere, reinere Form des Katholizismus wiederherzustellen, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in Gefahr geraten war.
Interessanterweise bezeichnet Autor John M. Duffey das Jahr 1971 als ein Jahr des „Besessenheitsfiebers“, nachdem „Der Exorzist“ veröffentlicht worden war. Nach dem sofortigen internationalen Erfolg wurde der Film verfilmt und 1974 in Deutschland veröffentlicht. Duffey erklärt, dass dies eine soziale Hysterie auslöste, die die Zahl der gemeldeten Fälle dämonischer Besessenheit weltweit direkt und erheblich ansteigen ließ. 47Könnte dieses Phänomen im Fall Anneliese eine Rolle gespielt haben? Laut Duffey ist das Zusammentreffen von „Besessenheitsfieber“ und Annelieses vermuteter dämonischer Besessenheit „zu groß, um es zu ignorieren“.
Annelieses Opfer
Anneliese behauptete, in ihrer Vision sei vorhergesagt worden, dass die Jungfrau Maria am 31. Oktober zurückkehren würde, um die Dämonen auszutreiben, falls sie das Angebot nicht annehme. Doch an diesem Tag war Anneliese mehr denn je bereit, für die Sünden der Menschheit zu büßen und sich selbst zur Märtyrerin zu machen.
Den Priestern zufolge waren die Dämonen an diesem Tag ungewöhnlich passiv. Sie nutzten die Gelegenheit und begannen eine intensive Exorzismussitzung, bei der sie allen Dämonen, die behaupteten, in dem Mädchen zu wohnen, verzweifelte Schmerzensschreie entlockten. Als sie anfingen, zur Jungfrau Maria zu beten, drang ein schauriger Schrei aus Annelieses Innerem. Die Stimmen schrien: „Sie kommt!“
Den Priestern gelang es dann, die Dämonen einen nach dem anderen dazu zu bringen, Anneliese zu verlassen.
Das Folgende ist ein Auszug aus dem Exil von Fleischmann und Cain. Unten finden Sie die Abschrift in englischer Übersetzung.
Die Stimme : Ich bin verdammt, weil ich … weil ich … ich meine priesterlichen Pflichten so schlecht erfüllt habe.
Priester : Wer bist du? Judas?
Die Stimme : Nein.
Priester : Fleischmann?
Die Stimme : Ja. Ich muss jetzt gehen.
Priester : Zur Hölle?
Die Stimme : Ja.
Priester : Wissen Sie, was Sie zu sagen haben?
Die Stimme : Ja.
Priester : …Sohn und Heiliger Geist. Ein Gott in drei Personen und der Heilige Geist. Gib uns das Zeichen. [ Pause ] Ich brauche ein Zeichen für deinen Abschied. [ Pause ] Sohn und Heiliger Geist. Gib uns das Zeichen.
Die Stimme : Ha… Ha… Ha… Heil. [ stottern ] Maria… [ Pause ] … Voller Gnade.
Priester : Es war ein Zeichen, dass dieser gegangen ist. Er sagte: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade.“ Es war das fixe Zeichen. Fleischmann ist also gegangen. Nun der Nächste. Wer ist der Nächste? Kain oder Nero? Kain ist der Nächste. Im Namen des einen Gottes in drei Personen: dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.
Die Stimme : Ich bin Kain.
Priester : Im Namen des einen Gottes in drei Personen …
Die Stimme : Ich habe meinen Bruder getötet!
Priester : Ich befehle euch, zu gehen. Im Namen des einen Gottes in drei Personen … befehle ich euch, die Heilige Jungfrau anzubeten.
Die Stimme : Ha…Ha…Ha…
Priester : Ich befehle euch, die Mutter Gottes anzubeten.
Die Stimme : Ha…ha…du dreckiges Schwein, was hast du dir ausgedacht.
Priester : Im Namen des einen dreifachen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Ich befehle euch, die Heilige Jungfrau anzubeten. Im Namen des einen dreifachen Gottes, des Vaters…
Die Stimme : Ha…Ha…Ha… …Gegrüßet seist du [ stottern ] …Maria… …voll der Gnade.
Nachdem die Dämonen vertrieben waren, sagte Anneliese mit ihrer normalen Stimme: „Ich bin jetzt völlig frei… völlig frei. Es ist so wunderbar… völlig frei.“
In diesem Moment ereignete sich die ungewöhnlichste Wendung in einem Besessenheitsfall. Berichten zufolge waren zehn bis fünfzehn Minuten später alle Dämonen zurück und beschwerten sich, dass sie – so sehr sie es auch wollten – nicht gehen könnten. Sie waren in Anneliese gefangen.
Von da an beschwerten sie sich täglich, manchmal ununterbrochen, darüber, dass sie weg wollten, aber auf mysteriöse Weise an Anneliese Michel gebunden waren. Pater Alt beschrieb, wie sie schrien: „Wir wollen raus, aber wir dürfen nicht.“48Anneliese selbst beklagte sich in ihren klareren Momenten über die großen Schmerzen, die sie ertragen musste.
Das Folgende ist ein übersetzter, transkribierter Auszug aus einem Gespräch mit Pater Renz:
Anneliese: Niemals hätte ich gedacht, dass es so schrecklich sein könnte. Ich dachte mir: „Ich möchte für andere leiden, damit sie nicht in die Hölle kommen.“ Aber nicht, dass es so schwer, so schrecklich, so furchtbar ist… Manchmal denkt man: „Leiden ist leicht.“ Aber wenn es richtig hart wird… will man keinen Schritt mehr tun.
Pater Renz: Ja. Wir können über Leiden leichtfertig reden, solange wir selbst leiden. Anneliese: Ja. Das stimmt. Pater Arnold, es ist so schwer vorstellbar, wie sie einen zwingen können. Sobald sie es tun, hat man keine Kontrolle mehr über sich selbst.
Anneliese: Und doch leistest du einen Beitrag, weil du bereit bist, das anzunehmen. Anneliese: Sie nehmen dir den Willen, irgendetwas zu tun, Vater.
Pater Renz: Das kommt daher, dass Sie vorhin gesagt haben: „Ja“.49
Am 30. Mai 1976 wandte sich Pater Alt an seinen Freund und Arzt Dr. Richard Roth, der zuvor mit dem Fall befasst gewesen war. Alt bat ihn, Medikamente zu verschreiben, um Annelieses Schmerzen zu lindern. Der Arzt riet ihr jedoch davon ab. In einem Interview für eine polnische Dokumentation aus dem Jahr 2007 erinnerte sich Pater Alt an Roths Aussage: „Ich kann einem Besessenen keine Medikamente geben, weil ich nicht weiß, welche Wirkung sie auf ihn haben könnten. Gegen den Teufel gibt es keine Spritze.“50Anschließend untersuchte der Arzt Anneliese und stellte offenbar fest, dass sie Stigmata, die Wundmale Christi, an ihren Beinen hatte. Später, so wurde behauptet, hätten sich die scheinbar von Nägeln verursachten Wunden auf ihre Hände ausgeweitet.51
Von diesem Zeitpunkt an begann Annelieses Zustand zu verfallen, obwohl sie ständig ernährt wurde. Es war bekannt, dass sie große Mengen Essen auf einmal verschlang und anschließend bis zu zwei Liter Saft trank. Trotzdem war sie gefährlich dünn und verlor jegliche Blässe. Den Priestern zufolge hatte Anneliese im Jahr zuvor eine ähnliche Abmagerungsphase durchgemacht, war dann aber schnell wieder gesund geworden.
Anfang 1976 hatte Anneliese behauptet, im Juli würde sich etwas ändern. Am 1. Juli verstarb sie im Alter von 23 Jahren auf tragische Weise.
Bis zu ihrem Tod hatte Anneliese den Exorzismus etwa siebenundsechzig Mal über sich ergehen lassen. Manche Sitzungen dauerten bis zu vier Stunden. Zweiundvierzig dieser Sitzungen wurden auf Tonband aufgezeichnet.52
In ihren letzten Augenblicken sprach Anneliese die Worte: „Mutter, ich habe Angst.“53
Die Todesursache war offensichtlich Hunger. Der Autopsiebericht gab an, dass sie nur 30 Kilogramm wog und aufgrund ständiger Kniebeugen an gebrochenen Knien litt.
Der Prozess
Nach ihrem Tod erhob die Regierung Anklage wegen fahrlässiger Tötung gegen die beiden Priester Renz und Alt sowie gegen Annelieses Eltern Anna und Josef. Es handelte sich damals um den ersten offiziellen und öffentlichen Fall von Exorzismus in Deutschland seit etwa fünfzig Jahren und den einzigen bekannten Fall, der auf Tonband aufgezeichnet wurde.
1978 wurden alle vier für schuldig befunden und zu sechs Monaten Haft auf Bewährung und drei Jahren Bewährung verurteilt. Ungewöhnlicherweise fielen die verhängten Strafen härter aus als vom Generalstaatsanwalt gefordert. Es war der Vorsitzende Richter Elmar Bohlender, der das schwere Urteil verkündete. Er erklärte, Anneliese sei an „fortgeschrittener Abmagerung“ gestorben. Diese hätte verhindert werden können, wenn sie zehn Tage zuvor angemessene medizinische Hilfe erhalten hätte. In ihren Zeugenaussagen bekräftigten die Priester und die Eltern ihre Ansicht, die medizinische Versorgung sei wirkungslos gewesen.54
Obwohl ein Urteil gefällt wurde, war das Gerichtsverfahren voller Ungereimtheiten. Obwohl die Verteidiger die Exorzismus-Videos des Priesters als Beweismittel vorlegten, wurden sie vom Gericht nie wirklich ernst genommen. Ein von der Staatsanwaltschaft geladener Sachverständiger, Professor Hans Sattes von der Universität Würzburg, kam zu dem Schluss, Annelieses Tod sei auf „eine geistige Krankheit und eine schwere psychische Störung“ zurückzuführen.55Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass ihm bekanntermaßen zahlreiche Fehler bei seiner Chronologie und der anschließenden Analyse von Angelegenheiten, einschließlich der Krankengeschichte und der Besessenheitsaufzeichnungen von Anneliese, unterlaufen sind.56
Auch die Behauptung, Epilepsie habe bei Annelieses Tod eine Rolle gespielt, wurde in Frage gestellt. Die Pathologen, die im Auftrag des Gerichts eine Obduktion durchführten, stellten fest, dass ihr Gehirn gesund war: Es wies keine Schäden auf, die epileptische Anfälle hätten auslösen können, nicht einmal mikroskopisch. Ebenso bizarr war das Fehlen von Wundliegen an ihrem Körper – Hautgeschwüren, die mit Hungeropfern in Verbindung gebracht werden – was Anneliese laut Gericht gewesen war. Dieser Umstand und ihre ungewöhnlich erweiterten Pupillen wurden in der Stellungnahme des Gerichts nicht erwähnt, sodass diese entscheidenden Befunde als unwichtig erachtet wurden.57Dies ist ein bezeichnendes Beispiel für nur einen der vielen Fälle, die die Art und Weise in Frage stellen, wie das Gericht Annelieses Fall behandelt hat.
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An dieser Stelle ist es wichtig, die mögliche Korruption des Gerichts ans Licht zu bringen. Da Ostdeutschland zu dieser Zeit von sowjetischen Truppen besetzt war und somit unter dem Einfluss des Kommunismus stand, waren staatlich geförderte antireligiöse Stimmungen weit verbreitet. Der Staatsatheismus wurde aktiv gefördert.58Da Klingenberg und das Landgericht Aschaffenburg in Westdeutschland lagen, ist es wahrscheinlich, dass ein solcher Einfluss der Säkularisierung über sie hinwegwirkte.
Darüber hinaus war man in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vorsichtig mit der Fähigkeit der Religion, die Bevölkerung zu indoktrinieren. Traditionelle, organisierte Religion wurde unter dem Nazi-Regime angegriffen, da die autonomen Befugnisse der Kirche im Widerspruch zu den nationalsozialistischen Idealen staatlicher Kontrolle standen. Atheismus war jedoch verboten.59 So wurde die Gottgläubigkeit gefördert, eine religiöse Bewegung der Nazis, die an eine höhere Macht glaubte, zugleich aber die autonome Macht der Kirche ablehnte. Aus diesem Grund findet man auf Kirchenaltären neben Hakenkreuzen und anderem Nazi-Zubehör Abbildungen von Hitler. Religion wurde manipuliert, um nationalistische Ideen zu verstärken und die Bevölkerung der Ideologie der Regierung anzupassen. Nach dem Fall des Dritten Reichs überrascht es nicht, dass staatlich geförderte Religion mit Argwohn betrachtet und eine klare Trennung von Kirche und Staat bevorzugt wurde. Dieser Ton der Säkularisierung war während des gesamten Prozesses gegen Anneliese Michel deutlich zu spüren. In seinen einführenden Bemerkungen betonte der Richter, dass an diesem Tag zwei Zivilisten vor dem Gericht säßen und nicht zwei Bedienstete der Kirche.60
All dies wirft Zweifel an der Haltung des Gerichts zur Religion auf. Es ist daher plausibel, dass der Prozess vom Staat inszeniert wurde, um die katholische Kirche zu diskreditieren und Anneliese möglicherweise von Dämonen besessen zu machen. Das Gericht schien die Positionen der Priester offen zu verspotten. Beispielsweise versuchte der Richter, Pater Alts Glauben mit der Frage zu verspotten: „Ich nehme an, Pater, Sie sind nicht verheiratet, oder?“61
Eine Erklärung in Sicht?
Zum Abschluss dieser tragischen Geschichte muss betont werden, dass die Familie von Anneliese Michel weder aus dem Fall noch aus dem Film „ Der Exorzismus von Emily Rose“ aus dem Jahr 2005, der später als Inspiration diente, einen Gewinn gezogen hat.
„Ich möchte den Film nicht sehen und weiß nichts darüber.“ – Frau Michel in einem Interview mit The Telegraph 62
Laut dem Journalisten, der das Interview führte, fühlte sich Anna Michel sichtlich unwohl, über Annelieses Tod zu sprechen, und bewahrte bis zur Veröffentlichung des Films öffentliches Schweigen. Damit steht der Fall Anneliese Michel im direkten Gegensatz zu anderen bekannten Fällen wie Amityville, wo die Familie Lutz direkt an dem Buch beteiligt war, das kurz nach ihren Erlebnissen geschrieben wurde, und an der darauffolgenden Filmreihe. Während dies ihre möglichen Motive für die Fälschung in Frage stellen mag, lässt sich dies von Anneliese Michel nicht behaupten. Stattdessen zahlte Anneliese den höchsten Preis – ihr Leben – und hinterließ eine verzweifelte Familie, die sich nie vollständig von dem Trauma erholen sollte.
Für viele Katholiken stellt Anneliese Michel eine Bedrohung für den gängigen Glauben dar, da sie Zeugnis für eine mittelalterliche Form von Satan und Hölle ablegt. Sie sollten sie am besten vergessen. Skeptiker sehen Anneliese als Opfer religiösen Fanatismus, verbunden mit psychischen und physischen Erkrankungen. Für einige Gläubige hingegen verkörpert sie Opferbereitschaft und Heiligkeit. Sie nahm die Dämonen mit in ihren Tod und opferte sich für unsere Sünden, ähnlich einer modernen Christusfigur. Noch heute besuchen Menschen Annelieses Grab, um ihr ihre Dankbarkeit zu zeigen und ihr Opfer zu ehren.
Was auch immer Sie glauben, der Fall von Anneliese Michel ist einer der am besten dokumentierten und rätselhaftesten Fälle angeblicher dämonischer Besessenheit in der heutigen Zeit.